Martin Schläpfer verortet Staatsballett in die Fernsehwelt

Mit der Premiere “Mahler, live” stellt sich Martin Schläpfer nicht nur als neuer Direktor des Wiener Staatsballetts, sondern auch als Choreograph vor: Zu Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 entwirft er sein erstes Werk für sein neues Ensemble. Seine erste große Uraufführung an der Wiener Staatsoper hat sich der neue Ballettdirektor sicherlich anders vorgestellt. Der zweiteilige Ballettabend “Mahler, live” wurde Freitagabend mit der Uraufführung “4” als Online- und Fernsehevent dargeboten. Arte Concert hat die Uraufführung zeitversetzt übertragen. Der Stream ist für 90 Tage abrufbar. ORF 2 strahlt Martin Schläpfers “4” am 8. Dezember um 9.05 Uhr in einer Matinee aus. Nachstehend eine Kritik der Live-Aufführung.

Mahler, live Inszenierung von Martin Schläpfer

Mit der Uraufführung von “4” in der Wiener Staatsoper legt Schläpfer ein weiteres Mahler-Ballett vor. Im Bild: Ketevan Papva und Calogero Failla | © ORF/Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Einige wenige Journalisten durften neben den Kamerateams im Haus am Ring bei der Aufzeichnung dabei sein. Darunter Maria Scholl von der APA, deren Eindrücke und Kritik über “4” hier (ausschnittsweise) nachzulesen sind.

“Mahler, live” an der Wiener Staatsoper

  • Choreografie: Hans van Manen,
  • Musik: Franz Liszt,
  • Klavier: Shino Takizawa;
  • “4” Uraufführung: Martin Schläpfer
  • Musik: Gustav Mahler
  • Dirigent: Axel Kober

Tempel der Tanzkunst

Rund hundert Tänzer und etwa ebenso viele Musiker im Graben fahren mit der ganzen Pracht und Power des Hauses auf und machen die leere, elegante Staatsoper zum verschwenderischen Geheimtempel der Tanz- und Musizierkunst. Wunderbare Kostüme von Catherine Voeffray kleiden die Compagnie in schlichtem, asymmetrischem Deco und die Compagnie ist hier tatsächlich: die ganze. In seiner ersten Arbeit für seine neue Truppe wollte Schläpfer für jeden und jede einzelne choreografieren, auch für die Tänzerinnen und Tänzer der Volksoper. Corona zum Trotz.

Mahler, live des neuen Direktors des Wiener Staatsballetts

Mit der Premiere “Mahler, live” stellt sich Martin Schläpfer als neuer Direktor des Wiener Staatsballetts vor | © ORF/Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Selbstverliebte Klänge

Dass er ein Gespür für die Sollbruchstellen der Wiener Ballettsituation besitzt, die gleichzeitig ihre Stärken sein können, beweist Schläpfer nicht nur mit der Verneigung Richtung Gürtel, sondern auch mit der Wahl seiner Musik. Mit einer großen Mahler-Symphonie lockt man das philharmonische Staatsopernorchester in der A-Besetzung – sogar in den Ballettgraben. Und das hört man. Axel Kober, Vertrauter sowohl der Wiener als auch Schläpfers, vermittelt den rechtmäßig selbstverliebten Mahler-Klang der Wiener – in der Vierten geziert von Schmeichelei und boshaftem Aufflackern rund um Inseln der Seligkeit – friktionsfrei an die Tanzbarkeit.

Kokette Terminologie

Dort gibt sich Schläpfer, vor dessen zeitgenössischer Arbeit sich manche Freunde des klassischen Balletts in Wien gefürchtet haben, als Gentleman: versöhnlich, fast handzahm. In den vielen Portionen und Portiönchen der schwadronierenden Musik bringt er seine Leute würdig unter, verzichtet gerne auf Terminologie zwischen modern und neoklassisch, charakterisiert einzelne Figuren mit flinkem Skizzenbleistift, formiert die Compagnie als kokette Flaneure auf der Bühne, das erzählerische Potenzial jedes Körpers nur andeutend, Emotionen anbietend mit dem Bauchladen. Dass er ein Choreograf ist, dessen Kreationen stets aus der Musik, in der Musik und mit der Musik entstehen, mag man gewusst haben. Seine Mahler-Visualisierung zeigt es eindrucksvoll.

Claudine Schoch und Marcos Menha in Mahler, live an der Staatsoper

Claudine Schoch und Marcos Menha in Mahler, live an der Staatsoper | © ORF/Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Treppenwitz der Tanzgeschichte

Gepaart wurde die neue Arbeit mit einem modernen Klassiker: “Live” von Hans van Manen, 1979 als erstes Video-Ballett entstanden und seither nie außerhalb van Manens eigener Compagnie getanzt, durfte nach Wien. Der verdoppelte Live-Video-Effekt durch die Fernsehübertragung ist fast schon ein Treppenwitz der Tanzgeschichte, als hätte van Manen vor vierzig Jahren ein Ballett für das Coronazeitalter geschaffen. Olga Esina, Charakterballerina mit jeder Faser, ist die einsame Tänzerin im Pas de deux mit der Handkamera (seit 1979 durchgehend Kameramann: Henk van Dijk). Ihr Körper wird en detail auf die Leinwand übertragen. Finger, Schuhe, Nacken, dann wieder Silhouette.

Trotziger Gegenentwurf

Sie geht hinaus aus dem Saal, trifft beim leeren Pausenbuffet auf Marcos Menha – den neuen Ersten Solotänzer hat Schläpfer aus Düsseldorf mitgebracht – für ein leidenschaftliches Intermezzo und verschwindet schließlich hinaus in die nächtlichen Wiener Straßen. Der leere Zuschauerraum vor der leeren Bühne, auf der die Leinwand zeigt, wie die Tänzerin langsam in die Stadt entschwindet: ein Tableau Vivant als Altarbild für die Bühnenkunst in der Pandemie. Es wäre ein tristes Ende, folgte nicht nach der Pause Schläpfers opulenter, trotziger Gegenentwurf.

(APA/Scholl/red)