Am Ort der Systeme: Kafkas Prozess im Jugendstiltheater
Nicht mit einem Festprogramm im üblichen Sinne, sondern mit einer konzentrierten Lesung öffnete das Jugendstiltheater am Steinhof nach umfassender Restaurierung erneut seine Türen. Schauspieler Philipp Hochmair las Auszüge aus Kafkas „Der Prozess“ – jenen Roman, in dem ein Mensch ohne nachvollziehbaren Grund verhaftet, verurteilt und vernichtet wird. Unter den Ehrengästen fanden sich Vertreter von Stadtpolitik, Kultur, Denkmalpflege und Medizin.
Lichtner, Gerhard Krispl (Krispl Art Inspirations), Philipp Hochmair und Manuela Moser-Ritzinger bei der Wiedereröffnung des Jugendstiltheaters am Otto-Wagner-Areal | © Krispl Art Inspirations/Nikola Milatovic
Erinnerungsraum
Das Jugendstiltheater, architektonischer Baustein des Otto-Wagner-Areals, wurde in den letzten Jahren aufwändig restauriert: Fassaden, Dach, Fenster sowie die technische Infrastruktur wurden erneuert. Die Wien Holding als Beteiligungsträgerin und weitere öffentliche Stellen trugen wesentlich zur Finanzierung und Umsetzung bei. Errichtet zwischen 1904 und 1907 als Teil der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof, diente es ursprünglich der „therapeutischen Unterhaltung“ von Patientinnen und Patienten. Während der NS-Zeit wurde das Areal jedoch zu einem Schauplatz systematischer Verbrechen: Tausende Menschen mit psychischen Erkrankungen wurden von hier aus deportiert und ermordet.
Das Wiener Jugendstiljuwel ist somit auch ein Mahnmal jener Epoche. Heute steht es als kultureller Erinnerungsraum, der sich seiner Vergangenheit bewusst stellt. Organisiert wurde die Wiedereröffnung von Gerhard Krispl (Krispl Art Inspirations), der mit der Lesung aus Kafkas „Der Prozess“ einen reflektierten und thematisch stimmigen Auftakt wählte. Gemeinsam mit den Geschäftsführer:innen Heribert Fruhauf und Manuela Moser-Ritzinger sowie Wien-Holding-Geschäftsführer Oliver Stribl wurde das Jugendstiltheater am Otto-Wagner-Areal als Ort des Diskurses, Schauspiels und gesellschaftlichen Dialogs neu eröffnet.
Heribert Fruhauf, Manuela Moser-Ritzinger, Philipp Hochmair und Oliver Stribl | © Krispl Art Inspirations/Nikola Milatovic
Ein Schuldloser
Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ gilt als eine der zentralen Parabeln der literarischen Moderne. Im Mittelpunkt steht Josef K., ein scheinbar schuldloser Mann, der ohne ersichtlichen Grund verhaftet wird und sich einem undurchschaubaren Justizsystem gegenübersieht. Der Text thematisiert die Entfremdung des Individuums in einer Welt aus Macht, Bürokratie und Schuld, die sich jeder Logik entzieht.
Kafkas Sprache beschreibt den Zustand permanenter Rechtfertigung, in dem der Mensch sich selbst zum Objekt fremder Ordnungen wird. Der Roman wurde vielfach als Allegorie auf die Existenz in einer entmenschlichten Moderne gelesen, als Kritik an institutioneller Willkür. Seine Offenheit macht ihn bis heute zu einem der meistinterpretierten Werke der Weltliteratur.
Schauspieler Philipp Hochmair brachte Kafkas „Der Prozess“ als kraftvolle Solo-Performance auf die Bühne des frisch restaurierten Jugendstiltheaters. | © Krispl Art Inspirations/Nikola Milatovic
Kafkas Weitblick
Hat Kafka im „Prozess“ intuitiv alle Menschen miterzählt, die in totalitären Systemen später zu Opfern wurden – die psychisch Kranken, die als „unheilbar“ galten, und die politisch Andersdenkenden, die als „zersetzend“ diffamiert wurden? Wenn „Der Prozess“ diese Verwundbaren mitgedacht hat, dann eignet sich Kafkas Roman umso mehr für die Wiedereröffnung des Jugendstiltheaters am Steinhof.
(PA/red)